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Barbarei – gestern und heute?
Regard protestant von Volker Strauss (15.10.2017)
Mit Blick auf die bedrohlich erscheinenden Zerrüttungen der Welt und dem Erstarken von Strömungen, die mehr „Identität“, „Abgrenzung“, und „Autarkie“ wünschen, will ich einmal die Frage stellen: Wie weit liegt der primitive Zustand der Menschheit hinter uns? Können wir zur Barbarei vergangener Zeiten wirklich zurückkehren? Haben weder Christentum noch Humanismus den Zustand der Gesellschaft zum Besseren verändert? Ist die Barbarei womöglich nicht hinter uns, sondern mitten unter uns?
Ich meine, das Christentum hat viel dazu beigetragen, den Tatsachen der Welt ins Auge zu sehen. Es wäre verhängnisvoll zu glauben, das Christentum sei nur am Jenseits ausgerichtet und verstünde nichts von der Wirklichkeit, und wäre eine weltfremde, idealistische Religion, die den Menschen vormacht, wer in diesem Leben gut sei, der würde auch glücklich sein oder zumindest im Jenseits eine Entschädigung erwarten.
Ich meine, das Christentum ist kein Weichspüler, sondern ist grimmig, schroff und realistisch. Es betont beharrlich eine unangenehme Wahrheit: es gibt keinen Weg zum Himmelreich, als durch Mühsal, Kampf und Wachsamkeit ohne Ende. Dahinter steckt das Wissen, dass wir Menschen nicht gut und glücklich sein können, sondern Sünder sind und bleiben werden. Es weiß aber auch von ewigen Gütern zu sprechen, neben denen selbst alles Glück und Gut der Welt nur wie billiger Plunder erscheinen. Nichts und Niemand kann den Menschen daran hindern, schöpferische Arbeit dem Glück vorzuziehen. Und gerade darin liegt des Menschen Verwandtschaft mit Christus, dem Gott, der Fleisch geworden unter den Bedingungen der Barbarei fortdauern leidet und doch Ewiges zu sagen und zu schaffen weiß.
Wir müssen uns darüber wieder klar werden, dass die Lehre von der Sünde, dieses alte, verhasste und missverstandene Botschaft auch eine beglückende und ermutigende Seite hat. Man stellt heute viele bösen Verhältnisse als von außen dem Menschen aufgenötigt dar, und nicht als von innen von ihm selber hervorgebrachte. Daraus ergibt sich unweigerlich die Folgerung, dass der Mensch für Nichts verantwortlich ist, und das Schreckliche dabei ist der Chor, der das Lied anstimmt: Daran kann man leider nichts ändern. Selbst wenn Evolution und technischer Fortschritt in Zukunft für einige Leiden Linderung bringen werden, es gibt doch keine Hoffnung für dich und mich, im Hier und Jetzt. Natürlich soll keiner meinen, er müsse ständig die alte Litanei vom „elenden Sünder“ anstimmen, aber wenn wir den Mut hätten, uns einzugestehen, dass wir Sünder sind und bleiben werden, trotz aller Anstrengungen, dass der Störenfried nicht außerhalb, sondern in uns sitzt, und dass wir deswegen durch Gottes Gnade befähigt und berufen sind, etwas dagegen zu tun, diese Botschaft wäre die wohl denkbar hoffnungsvollste Sache, und würde wohl die wachsende Barbarei unter uns wieder in ihre Schranken weisen können.
Denn eines dürfte sicher sein, Böses und Barbarei sind nie eine Sache der Vergangenheit, sondern bleiben eine Frage der Gegenwart und wollen im Hier und Jetzt beantwortet werden.
Der Autor ist Titularpastor der Protestantischen Kirche von Luxemburg.