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Gerechtigkeit als Anwesenheit Gottes
Kommentar zum 29. Sonntag von Winfried Heidrich (16.10.2022)
Im Evangelium vom heutigen Sonntag (Lukas 18,1-8) geht es um Recht. Viermal taucht das Wort im Text auf. Es geht um Recht und wohl auch um Gerechtigkeit, die eine Witwe vom Richter des Ortes hartnäckig einfordert. Es scheint dieser Frau um Alles zu gehen, um ihr Leben. Wir sind beeindruckt, ja erschrocken von ihrem hartnäckigen Mut. Was mag ihr geschehen sein? Ihre Forderung nach Recht macht das Leben des (verbeamteten) Richters ungemütlich. Er kann sich ihrer Vehemenz nicht mehr erwehren und muss Stellung beziehen. Er ist als Entscheidungsträger Teil einer wie auch immer gearteten Ungerechtigkeit. Welche Erfahrung wird der Richter machen, wenn er der Witwe zu ihrem Recht verhilft? Könnte solidarisches Handeln zu einer Schlüsselerfahrung für ihn werden? Fragen nach Recht und Gerechtigkeit sind Grundfragen vieler biblischer Texte. Warum ist das so?
Der Theologe und Philosoph Meister Eckhart schreibt im 14. Jahrhundert in einer Predigt: „Den gerechten Menschen ist es so ernst mit der Gerechtigkeit, dass, wenn Gott nicht gerecht wäre, sie nicht die Bohne auf Gott achten würden.“ Gerechtigkeit nennt Meister Eckhart eines der Grundwörter („termini generales“) für Gott. Im 17. Kapitel des Lukasevangeliums spricht Jesus vom „Reich Gottes mitten unter euch“ (17,21), das dort aufscheint, wo Menschen mit der Gerechtigkeit ernst machen.
Vermögen die biblischen Texte als Verkündigung im Gottesdienst uns in solidarische Unruhe zu versetzen? Werden wir zu Mit- und Fürsprecherinnen der furchtlosen Witwe? Witwen in den damaligen jüdischen Gemeinden waren arme, unversorgte Frauen. Wen sehen wir hier und heute vor unseren Augen? Geflüchtete? Alleinerziehende? Geringverdienende? Menschen, die ihr Recht auf Wohnen (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Artikel 25) einklagen?
Unsere Luxemburger Verfassung geht soweit mit dem Schutz des Rechts auf Eigentum, dass Besitzer von Immobilien diese ohne Konsequenzen unbefristet leerstehen und verfallen lassen dürfen. Eine egoistische und zynische Form materieller Wertsteigerung oder sozialer Gleichgültigkeit. Jeder, der mit offenen Augen etwa durch die Hauptstadt geht, kann das bemerken. Besitzrecht ist in Luxemburg offensichtlich ein höheres Gut als das menschliche Grundrecht auf Wohnen. So wird der gesellschaftliche Zusammenhalt geschwächt und die Demokratie, die wesentlich von Solidarität lebt, von innen gefährdet. Ob die neue Leerstandssteuer (LW, 4.11.2022, S.4) dieses Problem lösen wird, bleibt vorerst ein frommer Wunsch.
Die jesuanischen Gleichnisse mit ihren Werten der Gerechtigkeit halten der säkularen Gesellschaft Luxemburgs mit ihrem Finanzplatz und dessen Werten der Gewinnmaximierung einen Spiegel vor: Vermissen wir in unserer größer werdenden „transzendentalen Obdachlosigkeit“ (Georg Lukás) nicht eine „Versicherung, die nicht von dieser Welt ist“ (Ingeborg Bachmann)? „Dasein für den anderen“ ist Dietrich Bonhoeffers auf den Punkt gebrachte Definition von Kirche. Es ist das, was die Witwe vom Richter in seinem Amt zurecht einklagt.
Winfried Heidrich