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Das Geheimnis des Kreuzes
Kommentar zum 5. Fastensonntag von Georg Rubel (21.3.2021)
Ab dem kommenden Sonntag, dem fünften Fastensonntag, der auch Passionssonntag genannt wird, werden in den Kirchen die Kreuze verhüllt.
Dieser Brauch ist im Mittelalter entstanden, als das Kreuz immer mehr als Sieges- und Lebenszeichen verstanden wurde. Kreuze wurden mit Edelsteinen und Perlen geschmückt und hatten die Gestalt von Triumphkreuzen. Kurz vor Ostern wurden diese Kreuze verhüllt, weil nun der Aspekt des Leidens und Sterbens Jesu in den Mittelpunkt rückte. Bis auf den heutigen Tag hat sich diese Tradition erhalten.
Zur Verhüllung des Kreuzes passt es, dass das Evangelium vom fünften Fastensonntag in verhüllter Weise vom Kreuz spricht. In Joh 12,20-33 wird mit keinem einzigen Wort das Kreuz erwähnt. Und doch ist die gesamte Perikope auf das Kreuz ausgerichtet, wie es im kommentierenden Schlussvers explizit zum Ausdruck gebracht wird (vgl. Joh 12,33).
Die sogenannte Hellenenrede (vgl. Joh 12,20) findet sich an einem neuralgischen Punkt des Johannesevangeliums. Sie markiert das Ende des öffentlichen Wirkens Jesu und leitet über zur johanneischen Passionserzählung.
Jetzt spricht Jesus davon, dass die Stunde der Verherrlichung des Menschensohnes gekommen ist. Es ist die Stunde der Passion Jesu mit seiner Erhöhung am Kreuz. Mit einer Reminiszenz an die synoptische Ölbergstunde (vgl. Mk 14,32-42 parr.) beleuchtet Johannes den dunklen Aspekt der Stunde, das Leiden Jesu (vgl. Joh 12,27), hellt diese Stunde aber gleichzeitig auf durch die Rede von der Verherrlichung (vgl. Joh 12,23.28). In der Todesstunde Jesu vollzieht sich seine Erhöhung und Verherrlichung.
Die Erhöhung Jesu wird von Johannes als Gericht in Form eines Herrschaftswechsels beschrieben (vgl. Joh 12,31). Der Herrscher dieser Welt, der Satan, wird aus seinem Herrschaftsbereich hinausgeworfen und entmachtet. Dadurch kann der Erhöhte alle an sich ziehen und um sich sammeln. Die Macht des Bösen ist gebrochen, der Sieg Gottes errungen.
Als Kehrseite des Gerichts über die Welt spricht Jesus nach Joh 3,14 und Joh 8,28 in Joh 12,32 ein drittes Mal von seiner Erhöhung von der Erde: „Und ich, wenn ich von der Erde erhöht bin, werde alle an mich ziehen.“ Diese Sprechweise ist ambivalent und in ihrer Doppeldeutigkeit zu verstehen.
Auf der einen Seite meint „erhöhen“ wörtlich die Erhöhung ans Kreuz, das Aufhängen am Kreuzespfahl. Auf der anderen Seite bezeichnet „erhöhen“ im übertragenen Sinn die Erhöhung Jesu in die himmlische Herrlichkeit. Als Gekreuzigter und damit als Erhöhter und Verherrlichter kann Jesus seine Heilsherrschaft ausüben und allen Menschen das Heil schenken. Johannes betont hier in Joh 12,32 neben der Todesart Jesu auch den soteriologischen Aspekt seines Todes und misst ihm theologische Bedeutung bei. Durch die Erhöhung Jesu wird das Kreuz zum Heilszeichen für die Menschen.
Die Griechen wollen Jesus sehen (vgl. Joh 12,21). Dem irdischen Jesus können sie nicht begegnen, aber vom Erhöhten und Verherrlichten werden sie angezogen und bei ihm mit allen Gläubigen zu einem neuen Gottesvolk versammelt. Wenn am Karfreitag die Kreuze feierlich enthüllt werden, dann blicken wir auf zu Jesus als den am Kreuz Erhöhten und Verherrlichten.
Lassen wir uns von ihm anziehen, damit wir nicht nur Anteil an seinem Leiden und Sterben, sondern auch und vor allem an seiner Auferstehung und an seinem Leben haben (vgl. Joh 12,24). Darin liegt das Geheimnis des Kreuzes.