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Tabor-Stunden
Der Kommentar zum 2. Fastensonntag von Claude Bache (25.2.2018)
Mk 9,2-10
Am 3. April 1968, am Abend vor seiner Ermordung, beschließt Martin Luther King seine berühmt gewordene Rede mit den Sätzen: „Nun, ich weiß nicht, was jetzt geschehen wird. Schwierige Tage liegen vor uns. Aber das macht mir jetzt wirklich nichts aus. Denn ich bin auf dem Gipfel des Berges gewesen … und habe das Gelobte Land gesehen. Ich weiß nicht, ob ich es erreichen werde. Ich hoffe aber auf den Herrn. Meine Augen haben die Herrlichkeit des kommenden Herrn gesehen.“
Jesus hat seinen Jüngern den Weg erklärt, den er gehen wird, gehen muss. Er spricht unverblümt von Leiden, von Kreuzigung, von Tod, er spricht auch von der Auferstehung. Die Jünger sind niedergeschlagen, sie haben Angst. Und in diese Niedergeschlagenheit hinein schenkt der Herr einigen von ihnen das Tabor-Erlebnis. Wie Martin Luther King können sie sagen: Unsere Augen haben die Herrlichkeit des Herrn gesehen. Dieses Erlebnis hat die Jünger geprägt. Einer von ihnen ist Johannes. Im Evangelium, das ihm zugeschrieben wird, steht gleich im 1. Kapitel der Satz: „Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt, und wir haben seine Herrlichkeit geschaut, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit.“
Die Erfahrung auf dem Berg Tabor gibt den Jüngern die Kraft, das Kreuz zu verkraften. Jesus schenkt den Jüngern diese Erfahrung, um ihren Glauben zu stärken. Solange sie unten waren, sahen sie nur Leiden, Schmerzen, Hinrichtung. Jetzt finden sie die Kraft zum Trotzdem. Der Glaube ist immer ein Trotzdem, ist immer: dort hoffen, wo keine Hoffnung mehr möglich scheint.
Wir sehen die Wirklichkeit. Und an keinem Christen geht die raue und harte Wirklichkeit des Lebens vorbei. Niedergeschlagenheit, Resignation, Leid, Krankheit, oft eine unheilbare Krankheit, Enttäuschungen, Angst – auch bei uns. Sobald aber einem Menschen in abgewandelter Form die Erfahrung geschenkt wird, wie sie die Jünger auf dem Berg Tabor machten, da fängt der Mensch an zu sagen: Ja, das ist die Wirklichkeit: In jedem Kreuz ist ein Licht verborgen. Wir brauchen diese Tabor-Erfahrung, denn sonst würden wir genauso wie die Jünger damals verzweifeln. Immer wieder finden wir Menschen, die sich aus diesen Tabor-Stunden die Kraft holen. Wir sehen diese Kraft bei vielen schwer kranken Menschen. Freilich gibt es auch das andere: dass der Mensch nur noch um sich selber kreist, dass er sich selber bemitleidet, dass er die Augen vor dem Licht verschließt; dann wird Krankheit, ein Schicksalsschlag, das Kreuz, in welcher Gestalt es auch auf den Einzelnen zukommen mag, untragbar. Der Mensch verkrampft sich, er wird bitter. Er verbittert.
„Meine Augen haben die Herrlichkeit des kommenden Herrn gesehen“, der letzte Satz von Martin Luther King – wenn jeder von uns diesen Satz wiederholen könnte, wenn er diese Erfahrung gemacht hätte, so hätte er die Kraft zum Leben. Die Kraft, sich diesem Leben, der ganzen Wirklichkeit zu stellen und trotzdem um das Andere zu wissen, um das Licht, um die Herrlichkeit.
Quelle: Luxemburger Wort