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Das Licht des Lebens
Kommentar zum 4. Fastensonntag von Mathias Schiltz (22.03.2020)
Bereits in frühester Zeit haben Christen das gesamte Johannesevangelium als „geistliches Evangelium“ bezeichnet. Mit der ihm eigenen Symbolik bewegt es sich stets auf mehreren Ebenen. Die sichtbaren und greifbaren Ereignisse werden zur Chiffre für eine höhere Wirklichkeit, zu „Zeichen“, die den tieferen Sinn der Sendung und des Wirkens Jesu erschließen und letztlich seine Herrlichkeit aufleuchten lassen, wie es bereits im Anschluss an das Weinwunder zu Kana in Galiläa heißt, wo Jesus sein erstes „Zeichen“ wirkte (Joh 2,11).
Dieses Vorgehen des Evangelisten bestätigt sich vornehmlich im Bericht über die Heilung eines Blindgeborenen (Joh 9,1-41), den es heute zu bedenken und zu entschlüsseln gilt. Auf dem Hintergrund der leiblichen Heilung, die dem Blinden das Augenlicht schenkt, zeichnet der Text den Weg des Glaubens nach, der von der geistig-geistlichen Blindheit und Verblendung hinführt zur Erleuchtung durch das „Licht des Lebens“ (Joh 8,12). Und dieser Glaubensweg wird dargestellt in mehrfachem Rückgriff auf Elemente der ursprünglichen Taufliturgie, die dem Autor des Johannesevangeliums, um das Jahr 100 n. Chr., durchaus bekannt sein durfte. Hierher gehören das Auflegen eines Teigs der an eine Taufsalbung erinnern könnte; die Aufforderung, sich im Teich Schilóach abzuwaschen, als Hinweis auf das Bad der Taufe; der bedeutungsvolle Name des genannten Teichs – der Gesandte – der zweifellos auf Jesus als den von Gott gesandten Erlöser hinweist; schließlich die Deutung des ganzen Geschehens als „Erleuchtung – Photismos“, ein Begriff, der bereits im Hebräerbrief (6,4; 10,32) und bei den ersten christlichen Schriftstellern das Taufgeschehen schlechthin bezeichnet. Einige Ausleger gehen soweit, das ganze 9. Kapitel des Johannesevangeliums als Taufkatechese auszuweisen.
Wie auch immer, ihren liturgischen „Sitz im Leben“ hat die Heilung des Blindgeborenen heute in der Vorbereitung der erwachsenen Taufbewerber. Am heutigen Sonntag sind sie im Rahmen des Katechumenats zu einer Selbstprüfung aufgerufen, in der sie Herz und Geist erforschen und erkennen sollen, wie und wo sie auf ihrem Glaubensweg vor Gott stehen, wie sie mit den Anfechtungen fertig werden, die ihnen genauso wenig erspart werden, wie dem geheilten Blindgeborenen. Vor allem sollen sie um die Gnade der Erleuchtung bitten, damit aus Blinden Sehende werden, Schritt für Schritt, wie es eine andere Blindenheilung im Markusevangelium (8,22-26) beschreibt. So soll ihr Blick sich zunehmend klären und voll empfänglich werden für das „Licht des Lebens“. Damit wird das Katechumenat letztlich zu einer geistlichen Sehschule.
In den pastoralen Anweisungen zum erneuerten Erwachsenenkatechumenat werden die Gläubigen nicht nur eingeladen, die Taufbewerber (die Katechumenen) durch ihr Gebet zu unterstützen. Wir sind aufgefordert, deren Weg zu teilen, indem wir uns der eigenen Taufe vergewissern und durch eine aufrichtige Bekehrung unsere Treue und Dankbarkeit für die empfangene Gabe erneuern. Dazu gehört auch für uns eine Läuterung und Schärfung des Blickes in der geistlichen Sehschule.
Denn von Blindheit und Verblendung sind wir gerade heute bedroht durch die Großwetterlage der Gottvergessenheit und Gottesferne, die immer weiter um sich greift. Bereits der Märtyrerpriester Alfred Delp hat kurz vor seiner Hinrichtung am 2. Februar 1945 in einem geradezu prophetischen Vorgriff die „absolut verschlossene Weltimmanenz“ unserer Zeit beklagt, in der die meisten Menschen das Leben nur noch als ein irdisches verstehen, das man von der Geburt bis zum Tode in vollen Zügen nützen, ausnützen und genießen müsse, dahinlebend ohne weitere Perspektive.
Sorgen wir dafür, dass wir Sehende bleiben: - empfindsam für die Vorahnung des unerschaffenen Lichtes, dessen Schimmer in Augenblicken tiefster Ergriffenheit oder höchster Entzückung, aber auch in Wochen der Not, wie wir sie derzeit erleben, immer wieder am Horizont unseres Bewusstseins aufscheint; - empfänglich für das, „was kein Auge gesehen“ (1 Kor 2,9); - offen zuletzt für das volle Licht, das auf den geheilten Blindgeborenen einstürzte, ihn bis ins Mark erschütterte und schließlich in das ungeschmälerte Bekenntnis mündete: „Ich glaube, Herr“.
Lassen auch wir uns durch dieses Licht überwältigen wie Saulus auf dem Weg nach Damaskus (Apg 9,3-9). Es ist das „Licht des Lebens“, das „Licht vom Licht“ (Großes Glaubensbekenntnis), „das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet“ (vgl. Joh 1,9).
Quelle: Luxemburger Wort